Interview mit IT-Expertin
Wie der Umstieg auf offene Software in Schulen gelingt

Franziska Kelch
3. Juli 2025
Wir treffen Martina Müller bei der Tagung Offene KI in der Bildung von Wikimedia Deutschland und dem Niedersächsischen Landesinstitut für pädagogische Qualitätsentwicklung zum Interview. Expert*innen und Neugierige aus Schulministerien und Landesinstituten, Schulbehörden, Interessenvertretungen und anderen Bildungsbereichen haben sich bei der Tagung über den Einsatz von offenen digitalen Anwendungen und offener KI ausgetauscht.
Martina Müller ist seit 2017 im Landkreis Harz für die Schul-IT verantwortlich. Das heißt: Sie und ihre Kolleg*innen sollen den zuverlässigen Betrieb der digitalen Infrastruktur an allen Schulen des Kreises sicherstellen. Aber auch die strategische Weiterentwicklung fällt in ihren Bereich.
Was ist für eine IT-Strategie aus ihrer Sicht als IT-Expertin wichtig?
Die öffentliche Hand – und gerade der Bereich Bildung – braucht IT-Lösungen, die sicher, nachhaltig und offen gestaltet sind. Schließlich haben wir eine gesellschaftliche Verantwortung. Deshalb setze ich mich seit vielen Jahren für den Einsatz freier und quelloffener Software ein – sowohl aus Überzeugung als auch aus praktischer Erfahrung.

Die öffentliche Hand – und gerade der Bereich Bildung – braucht IT-Lösungen, die sicher, nachhaltig und offen gestaltet sind.
Als ich 2017 meine Arbeit im Landkreis Harz begonnen habe, wurde zeitgleich der Bereich Schul-IT neu aufgebaut. Bis dahin gab es keine zentrale Ansprechperson für die digitale Infrastruktur an unseren Schulen. Das war eine Lücke, die ich dringend schließen wollte. In der Anfangszeit habe ich mir jede Schule persönlich angesehen. Dabei habe ich schnell gemerkt, wie unterschiedlich die Ausgangssituationen waren: Einige Schulen hatten dank engagierter Lehrkräfte bereits eigene IT-Lösungen aufgebaut, andere standen noch ganz am Anfang. Hier gab es PC-Kabinette, dort mobile Geräte und Schulen haben die verschiedensten Betriebssysteme genutzt. Es gab keine einheitliche Strategie, keine personalisierten Benutzerkonten und oft veraltete Systeme.
Vor dieser heterogenen Ausgangslage stand ich vor der zentralen Frage: Wie schaffen wir eine Lösung, die individuelle Bedürfnisse der Schulen respektiert und zugleich zentral verwaltbar ist?
Für mich war klar: Für die unterschiedlichen Ansprüche brauchen wir eine offene und flexibel anpassbare sowie nachhaltige Lösung – und die finde ich im Open-Source-Bereich. Weil Open Source Software anpassbar ist, können wir pädagogische Anforderungen und technische Standards miteinander verbinden. Diese Offenheit und Veränderbarkeit macht uns unabhängig von einzelnen Herstellern.
Für die unterschiedlichen Ansprüche brauchen wir eine offene und flexibel anpassbare sowie nachhaltige Lösung – und die finde ich im Open-Source-Bereich. Weil Open Source Software anpassbar ist, können wir pädagogische Anforderungen und technische Standards miteinander verbinden. Diese Offenheit und Veränderbarkeit macht uns unabhängig von einzelnen Herstellern.
Das klingt sehr nach Kulturwandel. Gab es da Widerstände? Wie hat die Umstellung dann in der Praxis funktioniert?
Zum Glück hatte ich von Beginn an die Unterstützung der Dienststellenleitung. Besonders wichtig war mir aber auch, die Schulleitungen, Lehrkräfte und sogar Schüler frühzeitig einzubinden. Deshalb haben wir eine einjährige Erprobungsphase gestartet, in der wir drei verschiedene Open-Source-Lösungen – Puavo, Univention und Linuxmuster – an unterschiedlichen Schulen getestet haben.
Die Entscheidung für Puavo von Opinsys wurde dann gemeinsam getroffen – von der Schul-IT, von Lehrkräften und mit Feedback der Schüler. So konnten wir nicht nur eine technisch überzeugende Lösung finden, sondern auch Akzeptanz und Mitgestaltung von Anfang an sicherstellen.
Wie ging es dann weiter? So eine Umstellung ist ja vermutlich ein längerer Prozess, oder?
Ende 2020 haben wir unsere zentrale Open-Source-Lösung erfolgreich ausgeschrieben und einen Rahmenvertrag abgeschlossen. Ursprünglich war geplant, pro Jahr etwa zehn Schulen auf Puavo umzustellen und sie dabei eng zu begleiten – mit Fortbildungen, Einführungsphasen und individueller Unterstützung.
Dann kam die Pandemie – und mit ihr ein enormer Druck, schnell tragfähige digitale Lösungen bereitzustellen. Unser Vorteil war: Wir hatten bereits eine zentrale Lösung in der Hand, die genau das bot, was in dieser Situation gebraucht wurde.
Über Puavo stellen wir allen Nutzenden – Schüler*innen, Lehrkräften, pädagogischen Mitarbeitenden – ein zentrales Benutzerkonto zur Verfügung. Dieses Konto bietet nicht nur Zugriff auf das System selbst, sondern auch auf viele weitere Dienste: eine persönliche E-Mail-Adresse, eine eigene Nextcloud mit Collabora Online, ein Videokonferenzsystem (damals Jitsi Meet, heute Nextcloud Talk) sowie weitere Open-Source-basierte Anwendungen. Alles ist plattformunabhängig, sicher, kostenfrei nutzbar – sowohl in der Schule als auch zuhause.
In einer gemeinsamen Videokonferenz mit allen Schulleitungen, dem Landrat und mir wurde deshalb sehr kurzfristig beschlossen, die Lösung sofort auf alle Schulen auszurollen. So konnten wir während der Pandemie handlungsfähig bleiben und gleichzeitig die digitale Infrastruktur zukunftsfähig aufstellen.
Das klingt alles sehr aufwändig, aber harmonisch. Gab es auch Hindernisse, die Sie überwinden mussten? Und ist das gelungen?
Als Flächenlandkreis mit vielen Schulen in ländlicher Umgebung stehen wir grundsätzlich vor besonderen Herausforderungen – nicht nur in technischer, sondern auch in organisatorischer oder personeller Hinsicht. Und für so eine Umstellung braucht es eben Personal. Zum Zeitpunkt der ersten Inbetriebnahmen bestand unser Schul-IT-Team aus nur fünf festen Mitarbeitenden, zwei davon waren gerade neu eingestiegen und noch in der Einarbeitung. Das war sicher eine Herausforderung, aber dank des hohen Engagements und Teamgeists haben wir diese Phase gemeistert.
Die Reaktionen der Schulen waren überwiegend positiv – insbesondere, weil wir auf Transparenz, Mitgestaltung und individuelle Begleitung gesetzt haben. Natürlich kam in dieser schnellen Phase die Fortbildung anfangs etwas zu kurz. Doch das holen wir inzwischen sehr intensiv nach: Seit über zwei Jahren führen wir regelmäßig Schulungen und Workshops durch, um die Nutzung weiter zu vertiefen.
Welche positiven Auswirkungen haben sich denn durch die Umstellung ergeben?
Durch die Umstellung auf eine zentrale, offene und datenschutzkonforme IT-Infrastruktur haben wir an unseren Schulen viel gewonnen: mehr digitale Handlungsfähigkeit, mehr Unabhängigkeit und mehr pädagogischen Freiraum.

Durch die Umstellung auf eine zentrale, offene und datenschutzkonforme IT-Infrastruktur haben wir an unseren Schulen viel gewonnen: mehr digitale Handlungsfähigkeit, mehr Unabhängigkeit und mehr pädagogischen Freiraum.
Unsere Schülerdaten etwa, die bleiben in Europa. Es gibt keinen Abfluss an Drittstaaten, keine Blackbox-Systeme und keinen Lock-in-Effekt. Die Offenheit der Systeme gibt uns nicht nur technische, sondern auch pädagogische Souveränität.
Ein entscheidender Vorteil liegt darin, dass wir nicht auf Produktschulungen für eine bestimmte Software oder Version setzen, sondern auf grundlegende digitale Kompetenzen. Unsere Schüler*innen lernen beispielsweise, wie man mit einer Textverarbeitung oder einer Tabellenkalkulation sinnvoll arbeitet – unabhängig vom Hersteller.
Beim Lernen geht es aber nicht nur um Technik, sondern um Verantwortung im digitalen Raum: für Inhalte, Quellen, den eigenen Umgang mit Daten und die Wahl der Werkzeuge. Genau hier sehen wir den Bildungsauftrag – und genau deshalb war die Umstellung auf Open Source für uns nicht nur eine technische, sondern vor allem eine pädagogische Entscheidung.
Es ist ja kein Geheimnis, dass viele Kommunen sich schwer damit tun, die zahlreichen Aufgaben auch zu finanzieren. Haben finanzielle Erwägungen auch eine Rolle beim Umstieg auf Open Source Software gespielt?
Auch finanziell war der Schritt gut überlegt. Wir sparen im Bildungsbereich sämtliche Microsoft-Lizenzkosten ein – das entlastet langfristig unser Budget. Aber natürlich ist auch der Betrieb einer Open-Source-Infrastruktur mit Kosten verbunden: Unsere Server stehen größtenteils in Finnland, die Systeme erfordern regelmäßige Updates, Support und Weiterentwicklung. Aber: Diese Mittel sind gut investiert – denn wir erhalten dafür eine unabhängige, transparente und datenschutzkonforme Lösung.
Vor der Entscheidung haben wir die Gesamtkosten proprietärer und freier Lösungen detailliert gegenübergestellt – nicht nur kurzfristig, sondern auch im Hinblick auf Skalierbarkeit, Unabhängigkeit und Zukunftssicherheit. Auch diese Analyse hat deutlich gezeigt: Der eingeschlagene Weg ist der richtige.
Fragen andere Landkreise bei Ihnen nach: Wie habt ihr das gemacht? Und inspiriert ihr Vorgehen andere?
Ja, wir erhalten regelmäßig Rückmeldungen und Anfragen aus ganz Deutschland – sowohl von Schulträgern als auch von Landesinstitutionen. Der Austausch ist uns sehr wichtig, und wir teilen unsere Erfahrungen gern.
In Sachsen-Anhalt stehen wir aktuell in engem Kontakt mit einem Schulträger, der ein ganz ähnliches Konzept verfolgt und ebenfalls eine Open-Source-Lösung einführen möchte. Der Ausschreibungsprozess läuft dort gerade. Solche Rückmeldungen freuen uns natürlich sehr.
Wir verstehen uns dabei nicht als Vorreiter im Alleingang, sondern als Teil einer wachsenden Community, die Bildung digital souverän, offen und zukunftsfähig gestalten will.