Dr. Christian Humborg
15. Januar 2024
Von Mammutwerken und halben Sachen
Mit aktuell über 6,7 Millionen Artikeln kann man die Wikipedia getrost als Mammutwerk bezeichnen. Gedruckt unübertroffen war in seiner Zeit das Grosse vollständige Universallexicon Aller Wissenschafften und Künste, das zwischen 1731 und 1754 erschien. Der Zedler, benannt nach seinem Verleger Johann Heinrich Zedler, enthielt rund 120 Millionen Wörter. Ein echter Riese ist auch der Artikel zu Griechenland aus Ersch und Gruber’s Allgemeiner Encyclopädie (1818-89). Er überraschte Lesende mit einer Länge von 3.668 Seiten.
Nicht alle Enzyklopädieplanungen wurden in die Praxis umgesetzt. Sie wurden abgebrochen, bevor alle Buchstaben bearbeitet waren, oder der Eifer ließ nach. So endete die Deutsche Encyclopädie (1778-1807) mit dem Buchstaben K. Bei der Encyclopédie nouvelle (1834-42) wurde dem Buchstaben “A” weit mehr als ein Band gewidmet, während die Buchstaben “S” bis “Z” in einem einzigen letzten Band abgehandelt wurden.
Was ist enzyklopädisches Wissen?
In der Wikipedia muss sich jeder Artikel – und damit alle Autor*innen – die Frage stellen lassen: Ist das Thema enzyklopädisch relevant? Diese Frage haben auch Verfasser*innen der frühen Enzyklopädien diskutiert – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Mit dem Begriff Wissen meinen wir heute oft abstraktes, theoretisches Wissen, während praktisches Wissen als trivial vernachlässigt wird. Dabei beinhalteten die frühen Enzyklopädien oft sehr praktisches Wissen: Die Deutsche Encyclopädie (1778-1807) beinhaltete Rezepte und Waschanleitungen. Im sogenannten Wunder-Meyer (1840-1853) war der Artikel zur Auswanderung 72 Seiten lang und beinhaltete praktische Hinweise. Er empfahl unter anderem „die Auswanderung für fähige, kräftige, harte Arbeiter zwischen zwanzig und vierzig Jahren“, informierte über Preise für den Transport zwischen amerikanischen Städten und gab an, welches Budget Auswandernde für die Gründung einer Farm in der amerikanischen Prärie brauchten.
Berühmte Männer und eine Frau als Artikelautor*innen
Viele Autor*innen von Wikipedia-Artikeln schreiben unter Pseudonymen und wir wissen daher nicht, wer sie sind und welchen fachlichen Hintergrund sie haben. Einige Autoren von gedruckten Enzyklopädieartikeln hingegen waren regelrechte Stars. Albert Einstein hat den Artikel „Raumzeit” in der Encyclopedia Britannica geschrieben, zu der auch Henry Ford einen Artikel beigesteuert hat. . Der anarchistische Theoretiker Piotr Kropotkin hat passenderweise den Beitrag über „Anarchismus” zu der bekannten englischsprachigen Enzyklopädie geleistet. Vladimir Lenin schrieb einen Beitrag zur siebten Ausgabe der Enciklopediceskij slovar und Louis-Napoléon Bonaparte, der spätere Kaiser Napoléon III., hat den Artikel „Kanone” im Dictionnaire de la conversation verfasst.
Bis ein Enzyklopädieartikel über Frauen erstmals von einer Frau geschrieben wurde, dauerte es bis 1902 und erfolgte durch die Schriftstellerin Mary Jeune.
Der Enzyklopädie-Verkäufer
Dass Wikipedia den Zugang zu Wissen revolutioniert hat, ist beileibe keine Übertreibung. Denn fast überall auf der Welt können Menschen auf das Wissen aus über 300 Sprachversionen zugreifen. Es ist auch noch gänzlich kostenlos. Das war bei gedruckten Enzyklopädien nicht so und ist auch bei ihren digitalen Nachfolgern, wie etwa dem heutigen Brockhaus, nicht so. Wer Enzyklopädien verkaufen wollte, musste sie also bewerben.
Die Eigentümer von World Book sponsorten 1960 eine Expedition von Edmund Hillary in den Himalaya, um nach dem Yeti oder sogenannten Schneemenschen zu suchen. Die Reise sorgte für Aufsehen und die Ergebnisse wurden im Jahrbuch der Enzyklopädie festgehalten. Die Funk and Wagnalls New Standard Ecyclopedia war für längere Zeit gar nicht zu kaufen, da sie nur als Bonus für Abonnent*innen des Literary Digest erhältlich war. Das Bild des aggressiven Enzyklopädie-Verkäufers, der von Tür zu Tür ging, wurde sogar zu einem solchen Stereotypen, dass dieser in einem Sketch von Monty Python’s Flying Circus im Jahr 1969 auftauchte. Darin klingelt ein Mann an einer Tür, eine Frau öffnet. Er gibt sich als Einbrecher zu erkennen. Die Frau befürchtet aber, dass er ein Lexikon-Verkäufer ist und weigert sich, ihn hereinzulassen. Dem Mann gelingt es, sie davon zu überzeugen, dass er ein Einbrecher ist, sie lässt ihn hinein – woraufhin er beginnt, ihr eine Enzyklopädie zu verkaufen.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Einige Diskussionen, die es in und um die Wikipedia gibt, gab es schon bei den gedruckten Enzyklopädien.
Die Wikipedia ist ein sehr textlastiges Medium, weil Wissensvermittlung in der westlichen Welt überwiegend über Texte erfolgte und erfolgt. Den Bildern misstrauten und misstrauen viele als oberflächlich oder manipulierbar. Auch der Brockhaus verweigerte sich lange der Aufnahme von Illustrationen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das mit Illustrationen ausgestattete Meyers Konversations-Lexikon dreimal so viel Lexika verkaufte und Brockhaus zum Umdenken zwang.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde lamentiert, dass Schüler*innen und Student*innen ihre Berichte einfach aus Enzyklopädien abschreiben. Ein Vorwurf, der früher auch häufig gegenüber der Wikipedia gemacht wurde.
Enzyklopädien hatten schon damals den Anspruch auf Neutralität. Insofern überrascht der mutige Werbeclaim der deutschen Enzyklopädie Brockhaus aus der Mitte des 20. Jahrhundert nicht: “Brockhaus berichtet, aber richtet nicht: Brockhaus kennt keine Vorurteile”
Versuche von staatlichen Akteur*innen, enzyklopädisches Wissen zu beeinflussen oder sogar zu zensieren, sind auch nichts Neues. Dies wird in verschiedenen Ländern bei der Wikipedia versucht und betraf auch die Bolshaia Sovietskaja Entsiklopediia. Nach Stalins Tod wurden aus politischen Gründen entfernte Biographien wiederhergestellt. Die Zensur ging jedoch weiter. Im Jahr 1954 wurden die Abonnenten der Entsiklopediia aufgefordert, die Seiten 21-4 von Band V zu entfernen und sie durch gelieferte Seiten zu ersetzen. Damit sollte die Biografie von Lawrenti Beria, Stalins kurz davor hingerichteter Sicherheitschef, entfernt werden. Als Ausgleich erhielten die Abonnenten mehr Material über die Beringsee.
Und die Wikipedia?
Zum Abschluss des Buches widmet sich der Autor auf 16 Seiten der freien Online-Enzyklopädie: „Wikipedia hat ein neues Paradigma für Enzyklopädien geschaffen. Wikipedia übertrifft jede frühere Enzyklopädie in ihrer Offenheit für Beiträge aus der breiten Öffentlichkeit. Ebenso wichtig ist, dass Wikipedia die erste soziotechnische Enzyklopädie ist, die sowohl auf Software als auch auf Menschen angewiesen ist; die erste Enzyklopädie, die als Marke in mehr als einer Handvoll Sprachen existiert.”
Dr. Christian Humborg ist einer der Geschäftsführenden Vorstände von Wikimedia Deutschland