Vor WMDE
In meinen Augen hatte ich bereits sehr viel überstanden: Das Interview mit Florian, Cornelius und Jana – ich freute mich also und feierte, indem ich mir einen Tag frei nahm, als ich schließlich eine positive Antwort erhielt. Daraufhin wäre ich vor einem Konsularbeamten fast zusammengebrochen, wartete 4-5 Wochen ängstlich auf eine Antwort von der Botschaft; dann, eine Woche nach eigentlichem Beginn meines Vertrags: endlich eine positive Rückmeldung. Ich kam also an einem kalten und grauen Samstag in Berlin an – dann wählte ich am Montag prompt die falsche Zugverbindung und meldete mich an meinem ersten Arbeitstag erst sehr spät zum Dienst.
Nichts von all dem ist jedoch gleichzusetzen mit dem tatsächlichen physischen oder emotionalen Erlebnis und bereitet einen angemessen darauf vor. Zugegeben, wir alle haben vielleicht schon an anderen Orten gelebt, aber trotz des „Weltbürger“-Geredes ist für mich kein Ort wie der andere. Körperlich war ich mir nicht sicher, wie ich mit meiner ergrauten „Winter-Alligatorenhaut“, übermäßigem Durst, unregelmäßigem Schlafrythmus (KEIN Jetlag), Trägheit und Müdigkeit wegen mangelndem Vitamin D (Hallo, Nahrungsergänzungsmittel!) und ja, sogar Träumen über Kartoffeln umgehen sollte.
ABER, ich schweife ab, dies ist kein Drehbuch über mein psycho-soziales Wohlbefinden in Berlin. Obwohl es nicht leicht war, meine Erfahrungen als „Visiting Wikimedian“ zu artikulieren, hoffe ich, dass ich dem gerecht geworden bin und einige ungefragte persönliche Informationen als Mitbringsel aus meiner Zeit hinzufügen konnte.
Die Praktikumserfahrung
Die Rolle des Visiting Wikimedian besteht in erster Linie in lernender und unterstützender Funktion für die Organisation des Wikimedia Summits. Am Ende wird erwartet, dass man in der Lage sein wird, erworbenes Wissen auf vergleichbare Veranstaltungen zu Hause, oder besser noch, innerhalb der internationalen Wikimedia-Bewegung zu übertragen.
Zunächst einmal arbeitet man direkt mit den Personen aus den Teams zusammen, die für den Gipfel verantwortlich sind, d.h. Internationale Beziehungen und Veranstaltungen. Was man von jeder und jedem Einzelnen erhält und lernt, ist sehr unterschiedlich. Das Gespräch mit Cornelius hat mir zum Beispiel geholfen, zu verstehen, welche Überlegungen das Konferenzdesign bestimmen müssen, während die Interaktion mit dem Veranstaltungsteam alles Logistische in die richtige Perspektive rückte.
Wenn ich nicht an Aktivitäten wie Vor-Ort-Besuchen und Treffen am Konferenzort beteiligt war, musste das Kommunikationskonzept entworfen werden, Kontakte mit Einzelpersonen bezüglich der „Gesichter“ des Summits hergestellt werden und Recherchen über verschiedene mögliche Optionen angestellt werden, die unter so vielen anderen Dingen in Erwägung gezogen wurden.
Dann war da noch die ganz konkrete Aufgabe, das Catering für das Dinner mit meiner Kollegin Susann zu arrangieren – ich schlage vor, dass wir direkt vom Thema einiger sehr frecher Dienstleister abrücken. Für einen Abend, der für thematische Gruppentreffen und Geselligkeiten außerhalb des Tagesprogramms des Summits gedacht war, mussten wir also überlegen, wie viele uns Bescheid gegeben hatten, sie essen oder trinken etwas bestimmtes nicht. Warte, erinnerst du dich an A, B… Q… Y, Z? Wie viel hatten wir wieder für das Budget eingeplant? Wer hat seine Anwesenheit angemeldet? Und für wie lange? Übrigens, Raum X wird gerade umgebaut… Die Zusammenarbeit mit Susann Petraschek war hilfreich, denn herauszufinden, was in den jeweiligen Speisekarten der Caterer steht und zu erfahren, wie die Dienstleister in Deutschland konkret arbeiten, hätte mich Ewigkeiten gekostet. Und am Ende kam es darauf an, zuerst das Budget auszuarbeiten, dann die Logistik, dann einen Arbeitsplan, in der Hoffnung, dass alles an diesem Tag genau nach Plan funktionieren würde.
Und um „mein Gleichgewicht zu finden“, gab es die regelmäßigen Check-Ins und Team-Jour-Fixes. Was funktioniert? Was funktioniert nicht? Wie können wir in der Sache X helfen? Irgendwelche Vorschläge für Y? All das wurde angesprochen und war stets eine gute Gelegenheit für gegenseitiges Feedback.
Schließlich war ich sehr dankbar für die Arbeit früherer „Wikimedianer auf Besuch“ in Sachen Dokumentation – vieles von dem, was ich brauchte, war bereits aufgeschrieben und zentral gespeichert worden, so dass ich mich mit den Prozessen im Vorhinein früherer Gipfeltreffen vertraut machen konnte. Auch außerhalb der formalen Struktur war es interessant und zuweilen humorvoll zu erfahren, wie Kollegen den Gipfel wahrgenommen hatten. Alles in allem schätzte ich die Unabhängigkeit, die diese Rolle bietet.
Welche Rolle spielt die Kultur?
Meiner Beobachtung nach besteht das Kollegium von Wikimedia Deutschland aus Menschen verschiedener Nationalitäten, und das macht kulturelle Kompetenz und Inklusion sehr relevant, sowohl für den Einzelnen als auch für die Organisation. Auch kommt Kultur in verschiedensten Formen vor und wird unterschiedlich praktiziert, deshalb plädiert meine kleine Erzählung auch dafür, dass dieser kulturelle Faktor bei der Bewerbung um die Stelle des Visiting Wikimedian nicht unterschätzt wird. Und das wirft gleichzeitig die Frage auf, was wirklich mit der Besetzung der Stelle verbunden ist.
In Bezug auf den Summit könnte der kulturelle Aspekt eine Reihe von Angelegenheiten betreffen und im Umgang mit den Teilnehmern eine Menge erklären helfen. Aber auch abseits des Gipfels arbeitet man tatsächlich nah mit dem Kollegium, also der Bürokultur, zusammen und ist ein Teil davon. Die Zusammenarbeit mit Noelle und anderen hat mir einige der Grundlagen vermittelt, den Rest habe ich im Laufe der Zeit gelernt und absorbiert, je nachdem, mit wem und was ich zu tun hatte. Und damit glaube ich gerne, dass ich die „Vorbeben“ des Kulturschocks bereits überstanden hatte.
Nur als Beispiel: Wo ich herkomme, gilt es als unhöflich, wenn nicht gar unseriös, Dinge, die die Arbeit betreffen, über einen Chat zu kommunizieren. Es ist respektvoll, erst an den Schreibtisch der Person zu treten und ihr dann eine E-Mail zu schicken (in dieser Reihenfolge).
Aus diesem Grund zögerte ich erst, mit einigen Menschen per Chat zu kommunizieren, aber als ich es schließlich tat, war ich froh, dass ich mich nicht der Ängstlichkeit stellen musste, die mit einem persönlichen Gespräch mit (noch) Unbekannten einhergeht. Paradox…
Dennoch, außerhalb der Arbeit lebst du und musst innerhalb einer Welt navigieren, welche nicht nur von Kollegen bevölkert wird und dies führte zu unzähligen komischen Zwischenfällen in Form von Fehltritten, aber auch einigen Vorkommnissen, welche mich ein wenig durchgerüttelt hinterließen. Es war tatsächlich eine Erleichterung, welche Strecke auch immer zurückzulegen, ohne dass mir dabei hinterhergejohlt oder -gepfiffen wurde.
Als kleiner Einschub: Es gibt auf jeden Fall Dinge, die ich am Büroalltag vermisse – Menschen, die mit ihrem Helm in der Hand mit einem kurzen, schwungvollen „Tschüss!“ durch die Tür treten, das Bio-Obst montags und mittwochs, die ungeplanten Feierabend-Zusammentreffen in der Lounge und die Fremdsprachen-Mittagessensrunde in der Küche im 3. Stock (wenn auch nur zwei Mal).
Der Schatten von COVID-19
Persönlich war COVID-19 für mich eine Angelegenheit, von der ich schnell überdrüssig wurde, auf allen Nachrichtenkanälen zu hören -– insbesondere deswegen, da sie langsam aber sicher einen langen Schatten über alles warf, was den Summit betreffen sollte. Und dann traf es schließlich Deutschland, schleichend, aber dennoch hart – hart genug, die direkte Absage des physischen Treffens zu begründen. Das hätte sich wirklich niemand ausdenken können! Der Ablauf der Dinge sowie unsere Art, zu arbeiten, änderte sich ganz offiziell – von anfänglichem Unglauben hin zum Umgang mit den Verstrickungen und Auswirkungen der Absage aller bereits involvierten Teams von WMDE, der Teilnehmer des Gipfels, bereits unter Vertrag stehende Dienstleister, Lieferanten, und und und… Worum müssen wir uns nun kümmern und wie? Was können wir weiterhin umsetzen? Wie gehen wir mit diesem Rückschlag als Team und als Einzelpersonen um? Zählt das unter „höhere Gewalt“, worauf in Verträgen hingewiesen wird?
Meine Hoffnung konzentrierte sich schnell auf die Möglichkeit, den Summit virtuell abzuhalten. Zaghaft erst, denn es war das erste Mal, dass ein solches Treffen vollständig online abgehalten werden würde und ich sollte ein Teil davon sein, MUSSTE ein Teil davon sein. Ich war optimistisch und neugierig bezüglich der Eingliederungs-Prozesse und der möglichen Ausgänge, welche ein solches Engagement bietet. So wie ich es sah, war es der gleiche Ablauf, jedoch unterschiedlicher Raum und Logistik – aber wie wählt man einen passenden Moderator? Welches Medium wird am besten genutzt? Wie verdichtet man physische Aktivitäten, welche sich über drei Tage erstreckt hätten, zu interaktiven Online-Sessions und strukturiert diese so um, dass gewährleistet werden kann, dass die Teilnehmenden erhalten, was sie brauchen? Ist das Konferenz-Konzept das selbe wie für ein tatsächliches Treffen? Was, wenn es solche gibt, sind die Variablen, anhand derer der Erfolg eines solchen Unterfangens gemessen wird? Und das alles muss noch lange vor der eigentlichen Erfahrung durch die Teilnehmenden in Betracht gezogen werden. All dies sollte sich schließlich als positive Fehleinschätzung herausstellen – persönlich fühlte ich mich doppelt hintergangen, obwohl die Umstände natürlich außerhalb irgendjemandes Kontrolle lagen. Wie verhext kann etwas noch werden?
Im Rahmen der Vorbereitungen im Vorfeld des Summits dachten wir, wir könnten uns weiterhin auf die Unterstützung der „Summit Faces“ in Hoffnung auf einen virtuellen Gipfel verlassen. Dies sollte zwar auch nicht funktionieren, jedoch gab es während und nach dem Prozess einige wichtige Dinge zu lernen.
Leben in Berlin
Neben der Arbeit gestaltete sich die Chance, in Berlin leben zu können, als bunte Mischung.
Manche Umstellungen dauern ein Weilchen – mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, fanatisch nach meiner Geldbörse suchen, als der Zug am Mehringdamm losfährt, in der Hoffnung, mich an das Lösen eines Tickets erinnert zu haben, als Kontrolleure herumgehen; auf der falschen Straßenseite fahren, um dann „Sorry“ zu niemand bestimmtem zu sagen; sich zu fragen, nach wie vielen Pieptönen des automatischen Türöffners die Tür auch tatsächlich öffnet und in welche Richtung der Knauf gedreht werden muss…? Ich lache noch immer über mich selbst.
An manche Dinge jedoch gewöhnte ich mich nie: Nach 2 Esslöffeln voll MioMio konnte ich nie Gefallen am Geschmack finden; ebenso wenig an den VIELEN Eingängen der Haltestelle Alexanderplatz sowie dem Fahrradfahren auf der Karl-Marx-Straße.
Andere Dinge fing ich an, zu mögen: eingelegte Gurken, das Einrichten meines Zimmers, der Treptower Park und seine Hafenseite, die Fahrt vom Hermannplatz zum Mehringdamm, Fahrradfahren auf dem Tempelhofer Feld an einigen Samstagen und Sonntagen und die Windmühlen des Deutschen Technikmuseums, welche man durch den Zaun sieht, der den Park umgibt.
Wieder andere Dinge wurden zu einer kleinen Obsession, beispielsweise eBay-Kleinanzeigen…
Und manche Dinge verpasste ich: einen Besuch der Berliner Mauer und verschiedenster Museen.
So unglücklich es auch war, dass es in diesem Jahr keinen Wikimedia Summit gab, war und bin ich dankbar für diese Erfahrung und dafür, dass ich die Möglichkeit hatte, für die Organisation und an der Seite einiger engagierter Menschen zu arbeiten, und für die beruflichen und persönlichen Stärken, die sie in die geleistete Arbeit eingebracht haben. Meine Dankesliste lautet also wie folgt:
An Cornelius – er war die punktgenaue mobile Bibliothek des Gipfels. Und um ehrlich zu sein, wenn ich ein nur Viertel der Denkarbeit, der Verhandlungen und der Diplomatie leisten müsste, die er geleistet hat, hätte ich keine Haare mehr auf dem Kopf…
An Robert – die gründliche Kenntnis seines Handwerks, sein Wissen über technische Ausrüstung, Spezifikationen, Layouts, Anforderungen und Vorbereitung für welche Art von Veranstaltung auch immer, was man wann braucht, worauf man achten muss und so weiter, und so fort… Es stimmt vielleicht, dass jeder, der entsprechend ausgebildet ist, das Gleiche tun könnte, aber er schien das zu lieben, was er tat und das machte einen großen Unterschied.
An Jana – ihre Effizienz und Laserfokussierung bei der Arbeit. Die Fähigkeit, Informationen und Situationen sehr schnell und korrekt zu analysieren, und das alles bei äußerster Ruhe. Logistik und Teilnehmermanagement sind ihr Ding.
An Marc – da ich etwas allergisch auf soziale Medien reagiere, war er hilfreich dabei, aus seiner Erfahrung heraus zu erklären, wie man soziale Medien für eine Veranstaltung nutzen kann, die Zeitvorgaben, verschiedene Erfolgsmaßstäbe und Instrumente und Ansätze im Zusammenhang mit Marketing und Werbung für Veranstaltungen; und er hatte immer spontane Updates zu aktuellen Themen.
An Gesine – ich weiß nun mehr über Budgetübersichten und Überlegungen, auch die Beurteilung der Realisierbarkeit von Veranstaltungsorten für eine erfolgreiche Veranstaltung kenne ich von ihr (zum Beispiel, 2qm pro Person zu berechnen). Es waren seltsame Zeiten, aber wir hatten immer noch unsere guten Zeiten…
Während Uganda sich also darauf vorbereitet, 2021 WikiIndaba auszurichten, hoffe ich, mit allem, was ich jetzt weiß, dort sehr clever auszusehen und zu klingen.