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Gerichtsurteile als Menschenwerk: Zum Editionsprojekt „Die Namen der Justiz“

Christopher Schwarzkopf

23. Februar 2017

Das Fellow-Programm Freies Wissen wurde 2016 von Wikimedia Deutschland und dem Stifterverband initiiert, um junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei zu unterstützen, ihre eigene Forschung und Lehre im Sinne von Open Science zu öffnen und damit für alle zugänglich und nachnutzbar zu machen. In diesem Gastbeitrag stellt der Stipendiat Hanjo Hamann sein Projekt vor, welches er im Rahmen des Fellow-Programms durchführt. 

Die „Objektivität“ des Rechts…

Veranstaltungshinweis: „Wissenschaft offen gestalten – Open Science in der Praxis“ 
Am 10. März 2017 präsentieren die Stipendiatinnen und Stipendiaten des Fellow-Programms Freies Wissen in Berlin ihre Projekte und diskutieren über ihre Erfahrungen mit Open Science in der Praxis. Mehr Informationen zur Veranstaltung sind hier zu finden.

Unter deutschen Juristen gilt es als unfein, Fachtexte in der ersten Person zu verfassen. Wer es versucht, bekommt schnell zu hören, er möge doch die „Egoismen“ tilgen. Denn „das Recht“ soll in größtmöglicher Objektivität ohne eigene Anteilnahme gesprochen und geschrieben werden. Das Persönliche tritt dagegen zurück, Entscheidungen treffen also „der“ Bundesgerichtshof und „das“ Bundesverfassungsgericht, nicht die darin versammelten Richter. Und was „der Bundesgerichtshof“ entscheidet, gilt im Zweifel auch noch weit über die Amtszeit der beteiligten Richter hinaus.

Zu welch dramatischen Verwerfungen das führen kann, zeigt nun der Tübinger Rechtshistoriker Jan Thiessen in einem neuen Buch mit dem unscheinbaren Titel „Der Ausschluss aus der GmbH“ [1]. Anders als das nüchterne Thema nahelegt – und diese Dissonanz ist sicher gewollt – geht es darin ausschließlich um das allzu Menschliche in der deutschen Justiz. Thiessen zeigt nämlich, wie eine scheinbar sachlich begründete Rechtsansicht, die heute allgemein anerkannt ist, alles andere als sachlich begann: Sie wurde von Richtern mit einem bestimmten sozialen Hintergrund 1942 entwickelt, um einen bestimmten (nämlich jüdischen) Unternehmer zu benachteiligen. Thiessen hat die Geschichte dieses Gerichtsprozesses und der daran beteiligten Personen gründlich recherchiert und plastisch dargestellt, wie ein ideologisch motiviertes Unrecht gerade dank seiner Ent-Menschlichung in das Rechtsdenken nachfolgender Juristengenerationen einsickern und seinen ideologischen Kontext weit überleben konnte. So wird aus dem scheinbar neutralen Urteil „des Reichsgerichts“ mit dem blassen Aktenzeichen „II 67/41“ und der nichtssagenden Fundstelle „RGZ 169, 330“ wieder eine packende und lehrreiche Geschichte über menschliche Schicksale, über die heftigen Konflikte „des Rechts“ in besonderen politischen Machtverhältnissen, und über den Einfluss und die Verantwortung einzelner Richterpersönlichkeiten.

und die Namen der Justiz

Andernorts sind solche Rechts-Geschichten viel üblicher. So etwa in der angloamerikanischen Rechtsprechung, deren Richter vor subjektiver Rhetorik noch nie zurückschreckten und ihre persönliche Meinung auch öffentlich kundtun, wenn sie der Kollegenmehrheit und damit „dem Gericht“ widerspricht. Dieser Stil der Rechtsfindung bedingt auch eine andere Auseinandersetzung mit Streitfällen: Der Prozess wird weniger als amtliches Verfahren geführt denn als streitiger Diskurs; Urteile werden nicht mit Aktenzeichen zitiert, sondern mit den Namen der Prozessbeteiligten; Forscher beschäftigen sich dementsprechend intensiv mit den Nebenwirkungen der richterlichen Parteizugehörigkeit, ihrer sozialen Herkunft und sonstigen Umstände auf juristische Sachdebatten [2]. Diese Forschung findet nicht mehr nur qualitativ, sondern zunehmend auch quantitativ mithilfe großer Datensätze im Internet (Big Data) statt.

Während qualitative Justizforschung auch in Deutschland Konjunktur hatte, als in den 1970ern die Rechtssoziologie „vor den Toren der Jurisprudenz“ stand [3], scheitert die quantitative Justizforschung in Deutschland noch immer daran, dass geeignete Datensätze fehlen. Die meisten Informationen finden sich bestenfalls gedruckt oder auf archivierten Mikrofilmen (oder eben gar nicht), sind aber kaum je im Internet abrufbar. Dazu gehörten bisher auch die Namen und Aufgaben der Richter, die im Lauf der Jahrzehnte an den höchsten deutschen Gerichten tätig waren. Denn die Zuständigkeits- und Besetzungslisten der Gerichte (sog. Geschäftsverteilungspläne) wurden nie digitalisiert. Fragt man bei den Gerichten direkt nach, ist der Verbleib dieser Dokumente aus früheren Jahren entweder nicht bekannt, oder kann „aus Kapazitätsgründen“ jedenfalls nicht mitgeteilt werden – und „eine nachträgliche Erfassung in elektronischer Form ist [erst recht] nicht beabsichtigt“.

Das ändert mein Projekt „Die Namen der Justiz – Offener Zugang zur Justizgeschichte“ im Rahmen des Fellow-Programms „Freies Wissen“; es soll sowohl den offenen Zugang zu Rechtsdokumenten (open access) als auch die empirische Unterfütterung juristischer Entscheidungen (Evidenzbasierte Jurisprudenz [4]) verbessern.

www.Richter-im-Internet.de

Die Webseite www.richter-im-internet.de entstand im Rahmen des Fellow-Programms Freies Wissen, Screenshot von Christopher Schwarzkopf, CC BY-SA 4.0

Konkret soll das Projekt auf einer frei zugänglichen Internetseite die Geschäftsverteilungspläne der sieben höchsten deutschen Gerichte jedermann so vollständig wie möglich zur Verfügung stellen. Diese sieben Gerichte sind das Bundesverfassungsgericht, die fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitsgericht und Bundessozialgericht) sowie das Bundespatentgericht, die alle zwischen 1950 und 1961 errichtet wurden und dementsprechend auf mehr als ein halbes Jahrhundert Rechtsprechungstätigkeit zurückblicken.

Diese Gerichte wurden kontaktiert, ebenso wie einige einschlägige Dienstleister und der Verlag, der die Geschäftsverteilungspläne bis 2012 im Druck veröffentlichte. Die bei diesen Stellen verfügbaren Dokumente wurden in mehreren Arbeitsrunden digitalisiert, dann nachbearbeitet, mit Metadaten versehen und im Internet auf dem eigens eingerichteten Informationsportal www.Richter-im-Internet.de zum Download bereitgestellt. Dort liegen nun die Geschäftsverteilungspläne für eines der Gerichte (BGH) zurück bis zur Gründung vor, für die meisten anderen immerhin gut fünfzig Jahrgänge. Das sind insgesamt über 300 pdf-Dokumente im Umfang von knapp 3.000 Seiten. Wo noch Dokumente fehlen, verweist die Website auf Gerichtsauskünfte und Druckveröffentlichungen, die weiterführende Informationen enthalten und im Zuge einer etwaigen Projektfortsetzung genutzt werden könnten.

Ausblick: Open Data für die Forschung

Für einen wichtigen Teil der Daten treibt das Projekt die Öffnung sogar noch weiter: In Abstimmung mit einem vierköpfigen Beirat aus Sprach-, Netzwerk-, Politik- und Geschichtswissenschaftler(inne)n werden ausgewählte Besetzungslisten (insb. alle des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen) maschinenlesbar aufbereitet und mit weiteren Daten aus öffentlichen Quellen angereichert. So entsteht ein Datensatz aus bisher gut 5.200 Einträgen, die für jede(n) der bisher gut 600 BGH-Richter(innen) die Lebensdaten, Ein- und Austritts- sowie Beförderungstermine und die Senatszugehörigkeiten für jedes Jahr seit der Gründung des Gerichts 1950 auflistet. Zudem wird jede Person anhand ihrer Wikidata-Kennung identifiziert, wodurch es möglich sein wird, beliebige andere Datensätze, die in Wikidata hinterlegt oder verlinkt sind, automatisiert einzubinden.

So kann auch hierzulande empirische Forschung zur Justiz stattfinden, die das Big-Data-Potential des Internet nutzt, um wichtige Einsichten über das Zusammenspiel sozialer und politischer Systeme mit dem Recht zu gewinnen.


Zum Autor

Dr. Dr. Hanjo Hamann arbeitet am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern  (Bonn), unter anderem zu Rechtslinguistik, empirischer Rechtsforschung und Verhaltensökonomik. Seit September 2016 ist er Stipendiat im Fellow-Programm Freies Wissen.


[1] Thiessen, Jan: Der Ausschluss aus der GmbH als ‚praktische Durchführung einer verbrecherischen Irrlehre‘ – eine Rechtsfortbildungsgeschichte, Tübingen 2017.

[2] Bsp.: Segal, Jeffrey A. und Harold J. Spaeth: The Supreme Court and the Attitudinal Model Revisited, Cambridge 2002; Bailey, Michael A. und Forrest Maltzman: The Constrained Court: Law, Politics, and the Decisions Justices Make, Princeton 2011.

[3] Lautmann, Rüdiger: Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz – Zur Kooperation der beiden Disziplinen, Stuttgart 1971; kurz darauf ders., Justiz – die stille Gewalt, Frankfurt/M. 1972, Neuausgabe 2011.

[4] Hamann, Hanjo: Evidenzbasierte Jurisprudenz. Methoden empirischer Forschung und ihr Erkenntniswert für das Recht am Beispiel des Gesellschaftsrechts, Tübingen 2014.

Kommentare

  1. patrikz
    23. Februar 2017 um 20:22 Uhr

    Interessant. Danke Ihnen für die Erläuterung.

  2. Hanjo Hamann
    23. Februar 2017 um 14:23 Uhr

    Lieber patrikz,

    leider nicht “seit eh”. Seit 1967 werden die Geschäftsverteilungspläne der fünf obersten Bundesgerichte zwar gesammelt im Bundesanzeiger veröffentlicht, aber diese Veröffentlichungen gibt es in vielen Bibliotheken schon nur noch auf verrauschten Mikrofilmen, oder gebunden in unzugänglichen Tiefarchiven; beides lässt sich kaum anständig digitalisieren. Vor 1967 ist unklar, ob/wo die Geschäftsverteilungspläne im Bundesanzeiger veröffentlicht wurden; außer BGH und BSG wissen die Gerichte das selbst nicht, und “einfach mal durchblättern” ist aus dem o.g. Grund schwierig. BVerfG und BPatG veröffentlichen ihre Geschäftsverteilungspläne wohl erst seit Mitte der 1990er im Bundesanzeiger; für das BVerfG sind vor 1984 und für 1992/93 gar keine kompletten Geschäftsverteilungspläne mehr auffindbar. Insofern ist es (leider!) durchaus eine Schnitzeljagd, bei der man Unterstützung braucht – auch die des (Bundesanzeiger-)Verlags.

    Viele Grüße,
    Hanjo Hamann

  3. patrikz
    23. Februar 2017 um 10:14 Uhr

    Warum muss man die Geschäftsverteilungspläne der obersten Bundesgerichte denn von Gerichten, Dienstleistern und Verlagen erfragen? Werden die nicht seit eh im Bundesanzeiger publiziert?

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