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Hearing in Brüssel: Wir bauen uns ein Waisenhaus

WMDE allgemein

1. November 2009

Am 26. Oktober hatte die Europäische Kommission (EC) zu einem öffentlichen Hearing über “Orphan Works” eingeladen. Dies steht in einer Reihe mit dem “Grünbuch“, an dem sich auch Wikimedia Deutschland und einige andere Schwesterchapter beteiligt hatten.

Für Wikimedia Deutschland war dieses Hearing eine gute Gelegenheit, vor Ort Eindrücke über solche Hearings zu sammeln, Kontakte zu knüpfen und zu sehen, wie wir unsere Interessen an geeigneter Stelle vorbringen können.

Orphan Works sind – und da verlasse ich bereits den Konsens über die Definition – Werke, die zwar noch urheberrechtlich geschützt sind, deren Rechteinhaber jedoch nicht ausfindig zu machen sind – zumindest nicht mit vertretbarem Aufwand. Praktische Relevanz haben diese Waisenkinder vor allem seit der Massendigitalisierung durch Bibliotheken.

Während bei gemeinfreien Werken die Lage halbwegs eindeutig ist und bei den noch verlegten Titeln ein Rechteinhaber einfach greifbar ist, gibt es im Zeitraum zwischen 1870 und 1970 eine große Anzahl an Werken, bei denen wir einfach davon ausgehen müssen, dass die Urheber noch nicht 70 Jahre tot sind und irgendjemand Nutzungsrechte hat – ob er oder sie davon weiß oder nicht. Faktisch ist deshalb das 20. Jahrhundert der effizienten Massendigitalisierung entzogen.

Die Europäische Kommission hat mit Europeana selbst ein Projekt am Start, dass durch diese Situation stark betroffen ist. Sie überlegt jetzt, ob und wie eine europaweite gesetzliche Regelung aussehen könnte, die Waisenkinder wieder für die Allgemeinheit zugänglich macht.

Erste Lektion des Hearings: Ich war überrascht, wie groß die Zustimmung bei den geladenen Rednern war, dass eine gesetzliche Neuregelung erforderlich ist. Nur wenige Vertreter bestritten die generelle Notwendigkeit einer Orphan-Works-Regelung. Im Detail gibt es aber viele Streitfragen. Zum Beispiel:

  • Was genau sind Orphan Works?
  • Welcher Rechercheaufwand ist jemandem abzuverlangen, damit ein Werk irgendwann als Orphan deklariert werden kann?
  • Für welche Handlungen wäre eine Orphan-Works-Deklaration dann brauchbar (Digitalisierung, Nutzung, Nachdruck)?
  • Was passiert, wenn ein Rechteinhaber dann doch wieder auftaucht?
  • Wer sollte wem etwas zahlen, um ein Orphan Works zu nutzen, was soll mit dem Geld passieren? Und was soll mit dem Geld passieren, wenn es nicht abgerufen wird?

Einige Ansätze möchte ich hier herausgreifen:

Bibliotheken und einzelne Verlegerverbände arbeiten im Projekt ARROW zusammen, um Orphan Works für Europeana nutzbar zu machen. Dafür soll vereinbart werden, wie konkret Rechteinhaber gesucht werden müssen, um die Werke ohne Genehmigung oder Entschädigungszahlungen nutzen zu können. Man hofft derzeit auf eine Art “Szenekonsens”, dass jemand, der die vereinbarten Spielregeln einhält, nicht belangt wird, wenn er ein Werk digitalisiert. Erstaunlich für mich war, dass ARROW mit den hierfür geplanten Werk- und Norm-Datenbanken nicht freizügig umgehen wird. Man habe noch kein Geschäftsmodell und überlege sich, ob und zu welchen Konditionen man diese Datenbanken dann lizenzieren wolle.

Der Vertreter der VG Wort stellte ein Projekt vor, das erstmal nur Bücher betreffen soll und in Deutschland mit Börsenverein und Autorenverbänden Rechtssicherheit für Digitalisierungsvorhaben bietet. Es wird hier bei Orphans keine “Lizenz” ausgegeben, sondern eine Art Versicherung vor Ansprüchen durch Rechteinhaber. Hierzu stellte ich eine Nachfrage, ob sich diese “Versicherung” (Indemnification) nur auf die zivilrechtlichen Ansprüche beziehe oder ob diese Lösung einen Digitalisierer auch vor den strafrechtlichen Konsequenzen einer Digitalisierung ohne Genehmigung durch den (vorher unauffindbaren) Rechteinhaber schütze. Antwort im Plenum: Nur zivilrechtlich – was den Nutzwert erheblich senkt.

Später sagte mir der Justiziar des Börsenvereins, Sprang, dass man eine nationale Änderung des Urheberrechts anstrebe (wünschenswert noch vor einem “Dritten Korb”), der Verwertungsgesellschaften vor den strafrechtlichen Konsequenzen eines solchen Versicherungsmodells schützt. Wir lernen also, dass sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum ersten Mal für die Entkriminalisierung des “Raubkopierens” einsetzt, zumindest in einem kleinen Bereich.

Wenn ich oben von dem erstaunlich hohen Maß an “Grundkonsens” über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung sprach, habe ich ein paar Ausnahmen übersprungen. Dazu zählt die Vertreterin einer französischen Vereinigung aus dem Bereich Plastiken und Fotographien, deren Statement sich mit “Goethe kills Bohlen!” zusammenfassen lässt: Die Verfügbarkeit günstiger Digitalisate, ob nun Public Domain, Orphan Work (oder gar frei lizenziertes Werk?) sorge dafür, dass hart arbeitende Künstler nicht mehr so viel Geld für ihre Werke verlangen könnten, wie diese dafür verdienten (deserve, nicht earn). Man müsse darum alles dafür tun, damit es möglichst wenig Alternativen zu urheberrechtlich geschützten teuren Werken gäbe.

Auch Google war auf der Veranstaltung mit einem Justiziar aus London anwesend, der ausdrücklich nicht das Google Books Settlement thematisierte. In einem sehr klar strukturierten Beitrag sprach er sich für eine gesetzliche Regelung aus, lobte ARROW und wies auf die Notwendigkeit von Rechtssicherheit und Skalierfähigkeit hin. Nach seinem Vorschlag sollte als Orphan gelten, was nicht in ARROW aufgeführt ist. Als angemessenen Rechercheaufwand stellt er sich die einfache Suche in ARROW vor. Ob man nun für oder gegen eine solche Regelung ist, man wird festhalten, dass bei einer solchen Lösung der urheberrechtliche Schutz in seiner ganzen Blüte nicht mehr automatisch gewährt wird, sondern an die Meldung seines Werkes an eine Datenbank wie ARROW geknüpft wäre. 2009 wird vermutlich niemand mehr bestreiten, dass dies technisch völlig unmöglich wäre.

Zweite Lektion: Bibliotheken sind erstaunlich weniger bündnisfähig aus unserer Sicht, als man gemeinhin vermuten könnte. Eine gesunde Dosis Egoismus sei jedem gegönnt. Aus meiner Sicht betreiben die Bibliotheksvertreter jedoch eine problematische Strategie bei den Orphan Works, wenn sie aktiv nur auf ihre Domäne zugeschnittene Lösungen propagieren. Der Use Case der Bibliotheken ist es, im Rahmen der Massendigitalisierung die Werke des 20. Jahrhunderts online zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, schlagen sie daher bewusst Ausnahmen vor, die sich nur auf Bibliotheken als Akteure und die Online-Verfügbarmachung als Nutzungsart beziehen. Print on Demand, Book Espresso Machines, E-Book-Reader und andere Anwendungsformen sind dort (bisher?) nicht auf der Agenda.

Wendet man die Argumentationsrichtung unserer Grünbuchantworten auf die Orphan-Works-Regelung an, landen wir bei folgenden Empfehlungen:

Was genau sind Orphan Works?

Orphan Works sind (urheberrechtlich geschützte) Werke, bei denen mit angemessenem Aufwand nicht mindestens ein Nutzungsrechteinhaber ausfindig zu machen ist.

Welcher Rechercheaufwand ist jemandem abzuverlangen, damit ein Werk irgendwann als Orphan deklariert werden kann?

Eine Lösung muss skalieren, darum erscheint die ARROW-Variante derzeit am praktikabelsten. Denkbar ist eine zeitliche Komponente, nach der ein nicht in ARROW verzeichnetes Werk nicht sofort zum Orphan deklariert wird, sondern für einen überschaubaren Zeitraum “zur Fahndung ausgeschrieben” wird.

Für welche Handlungen wäre eine Orphan-Works-Deklaration dann brauchbar (Digitalisierung, Nutzung, Nachdruck)?

Hinsichtlich Flexibilität und Eindeutigkeit bietet es sich an, Orphan Works den gemeinfreien Werken gleichzustellen. Dies bedeutet dann allerdings auch zweifelsfrei, dass die Deklaration zum Orphan nicht übereilt geschieht. Die Gleichsetzung mit gemeinfreien Werken bedeutet auch, dass es keine Exklusivität bei der Nutzbarkeit des Werkes gibt.

Was passiert, wenn ein Rechteinhaber dann doch wieder auftaucht?

Es ist wünschenswert, dass Rechteinhaber ausfindig gemacht werden. Dazu sollte man genug Gelegenheit lassen. Wenn nach einem angemessenen Zeitraum kein Rechteinhaber auftaucht, wird man um einen Schlussstrich nicht herumkommen und das Werk zum Waisen erklären. Eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand oder eine Rücknahme des Orphan-Works-Status wäre unvorteilhaft.

Wer sollte wem etwas zahlen, um ein Orphan Works zu nutzen, was soll mit dem Geld passieren? Und was soll mit dem Geld passieren, wenn es nicht abgerufen wird?

Der Normalfall ist, dass sich ein Rechteinhaber findet, mit dem ganz regulär eine Vergütung für die Nutzung ausgehandelt werden kann. Findet sich kein Rechteinhaber, kann nicht einfach vermutet werden, dass ein solcher Rechteinhaber für die angedachte Nutzung überhaupt eine Vergütung will. Eine Pflichtabgabe, beispielsweise an eine Verwertungsgesellschaft, wäre daher nicht angemessen. Denkbar wäre eine sehr geringe Abgabe für die Aufrechterhaltung des Orphan-Works-Clearing-Prozesses, wenngleich auch hier viele Gründe gegen eine solche Abgabe sprechen.

Der Europäischen Kommission danke ich für diese Anhörung und wünsche mir für die Zukunft, dass mehr Gebrauch von den Mitteln der Informations- und Kommunikationstechnik gemacht wird. Denkbar wäre ein Webcast der Anhörung mit Rückkanal für Fragen während der Anhörung. Da die komplette Anhörung in fünf Sprachen (englisch, spanisch, italienisch, französisch und deutsch) simultanübersetzt wurde, wäre dies für einen großen Teil der Netzbevölkerung ein nützliches Angebot.

Dritte Lektion: Twittern von einer solchen Anhörung ist machbar, es gehen aber viele Zwischentöne verloren. Für den Twitterer selbst ist das jedoch ein sehr praktisches Instrument, um sich kurze Notizen zu machen und schon während der Anhörung Feedback von Externen zu erhalten. Ich gehe davon aus, dass der Nutzwert durch Wiederholung, Übung und Ankündigung steigt.

Siehe auch:

  • Danke, dass du da warst und danke fuer den interessanten Bericht.

    Kommentar von Cornelius am 2. November 2009 um 00:22

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