zurück

Wissenschaft in der Krise. Ist Open Science der Ausweg?

Heute folgt ein Gastbeitrag aus dem Fellow-Programm: Nachdem Open Science ein wiederkehrendes Schlagwort für die neueren meta-wissenschaftlichen Entwicklungen geworden ist, zeigen Rima-Maria Rahal und Johanna Havemann auf, worum es sich dabei handelt. Was sind die Ursachen für Diskussionen um Open Access, Open Data und Open Peer Review? Welche technischen Änderungen haben wir zu erwarten und welche gesellschaftlichen Auswirkungen werden diese haben?

Sarah Behrens

14. Juni 2019

Dieser Gastbeitrag von Dr. Rima-Maria Rahal und Dr. Johanna Havemann ist eine gekürzte, veränderte Version der Veröffentlichung Science in Crisis. Is Open Science the Solution?

Open Science (zu Deutsch: offene Wissenschaft) setzt sich dafür ein, wissenschaftliche Fragestellungen, Methoden und Erkenntnisse für alle frei zugänglich und verwertbar zu machen.[1] In diesem Sinne steht der Begriff Open Science für offene und transparente Forschung, deren Prozesse und Ergebnisse möglichst nachvollziehbar, robust und transparent sind. Dabei geht es sowohl um Offenheit, als auch darum, gute wissenschaftliche Praxis im digitalen Zeitalter zu ermöglichen, wofür entsprechende Tools und Techniken erarbeitet werden.

Warum brauchen wir Open Science?

Tatsächlich findet der Großteil wissenschaftlicher Arbeit gegenwärtig nicht “offen” statt. Im Gegenteil sind die meisten Forschungsergebnisse der empirischen Geistes- und Naturwissenschaften hinter den Paywalls profitabler privater Wissenschaftsverlage verborgen und nur für wenige zahlungskräftige Institutionen und einzelne Forscher*innen zugänglich. Außerdem werden positive und bahnbrechende Ergebnisse bevorzugt veröffentlicht, sodass wichtige Hinweise und Erkenntnisse über andere Studien in Schubladen und auf Datenträgern verborgen bleiben und nie die fachlichen Diskussionsforen erreichen. Methodische Herangehensweisen, Software und Laborausstattung sind meist unzureichend in der Fachliteratur dokumentiert und lassen sich nur schwer, wenn überhaupt, standardisieren, nachvollziehen und methodisch-experimentell analysieren.

In den letzten 10 bis 15 Jahren hat sich zusätzlich das Dogma Publish or Perish tief in der Wissenschaftslandschaft manifestiert, welches den enormen Publikationsdruck beschreibt, möglichst rasch in der Karriere eine möglichst lange Liste an begutachteten Veröffentlichungen in möglichst prestigeträchtigen wissenschaftlichen Zeitschriften zu produzieren. Dies hat unter anderem zur Folge, dass der Umfang an relevanter Fachliteratur kontinuierlich steigt, sodass es nunmehr schier unmöglich ist, den Überblick über relevante Ergebnisse in einem beliebigen Forschungsfeld zu bekommen. Auch Entscheidungswege bei der Bewilligung von Forschungsgeldern und der Vergabe von wissenschaftlichen Positionen orientieren sich bislang oft an der Anzahl der Publikationen in Zeitschriften mit möglichst hohem Impact Factor. Dabei gibt der Impact Factor zwar Auskunft über die mittlere Anzahl von Zitationen pro Artikel der Zeitschrift, kann aber nicht über die Qualität einzelner Artikel informieren. Deswegen rücken Forschungsförderinstitutionen und Wissenschaftskonsortien zunehmend vom Impact Factor als Qualitätsmerkmal ab.[2] Trotzdem herrscht weiterhin großer Publikationsdruck, der dazu führt, dass sich Wissenschaftler oft gezwungen sehen, in entsprechenden Zeitschriften zu veröffentlichen und entsprechende Ergebnisse zu produzieren.

So entstehen aus der Verschlossenheit von Wissenschaft auch Probleme für die wissenschaftliche Praxis und fragliche Forschungsergebnisse. Diese Probleme sind keineswegs neu, auch wenn die aktuellen Entwicklungen im Zuge der Open Science-Bewegung eine neue Phase in der Bearbeitung eingeläutet haben. Beispielsweise beklagte J. Cohen bereits 1962, dass empirische psychologische Studien auf zu kleine Stichprobengrößen gestützt seien.[3] Im Jahr 2011 kamen Forscher zu demselben Schluss.[4] Mit kleinen Stichproben und der beklagenswerten Tendenz, nur signifikante Resultate zu publizieren (sog. File Drawer-Problem, das alle empirischen Wissenschaften betrifft und zu einer verzerrten Fachliteratur führt[5]), steigt allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass publizierte Forschungsergebnisse Zusammenhänge darstellen, die eigentlich falsch sind.[6] Damit ist die Belastbarkeit eines Großteils der Fachliteratur fraglich.

Die Akkumulierung problematischer Forschungspublikationen ist es, die schließlich in der Psychologie und in anderen empirischen Wissenschaften Anfang der 2010er Jahre zum großen Knall geführt hat: Im Nachklang einiger prominenter wissenschaftlicher Betrugsfälle bildete sich zunehmend das Bewusstsein, dass es nicht nur diese offensichtlichen Betrugsfälle sind, die fragwürdige Forschungsergebnisse produzieren. Es gibt auch andere problematische Praktiken im Wissenschaftsalltag, die es schwer machen, robuste und nachvollziehbare wissenschaftliche Arbeiten von solchen zu unterscheiden, die nur wenig Aussagekraft haben. Einige Meinungsvertreter*innen[7] beklagen diese “Krise” in den empirischen Wissenschaften und befürchten, dass sie zu einem weitreichenden Glaubwürdigkeitsverlust führt oder sehen keine Krise. Wiederum andere verstehen diese “Krise” vielmehr als Gelegenheit zum positiven Umbruch, die Energie freisetzt, um nachhaltige Veränderungen in der Art und Weise, wie Wissenschaft gemacht wird, zu erreichen.

Dieser Wandel findet statt durch die Erarbeitung offener Forschungsmaterialien und transparenter Methoden, offener Lehr- und Lerninhalte, geht einher mit der Veränderung der Publikationslandschaft und von Reviewverfahren, und wirkt sich auf wissenschaftspolitische Prozesse aus.

Fellow-Programm Freies Wissen – Abschlussveranstaltung des dritten Programmjahres, Wikimedia 24.05.2019, Berlin. Foto: Ralf Rebmann

Der Weg zur Offenheit: Was bewirkt Open Science?

Insgesamt ist Open Science eine umfassende Reform der Art und Weise, wie Wissenschaft zugänglich, transparent und nachnutzbar praktiziert werden kann. Diese Reform hat zahlreiche quantifizierbare positive Auswirkungen, sowohl auf den Wissenschaftsalltag[8] als auch auf die Interaktion von Wissenschaft und Gesellschaft weltweit. Dabei verspricht Open Science nicht nur Verbesserungen auf der Systemebene für die wissenschaftliche Praxis allgemein, sondern auch für individuelle Wissenschaftler*innen. Im Zuge von Open Science wird durch unterschiedliche Herangehensweisen das Wissenschaftssystem in einen Zustand versetzt, der es Wissenschaftler*innen ermöglicht, sich auf das zu konzentrieren, was eigentlich der Gegenstand ihrer Arbeit ist: die Suche nach belastbaren Erkenntnissen.[9] So ist es beispielsweise durch Registered Reports möglich, methodisch saubere Arbeiten unabhängig von der Signifikanz der Ergebnisse zu publizieren und damit Teil des öffentlichen Diskurses zu sein, der durch Open Access, Open Peer Review, Open Data etc. nahezu vollumfänglich frei zugänglich sein kann. Mit Hilfe von Präregistrierungen wird es möglich, den eigenen Erkenntnisprozess offenzulegen und durch verbesserte Projektplanung effizienter zu arbeiten. Schließlich gewinnt man so an Freiheit von dem Druck, in eigenen Arbeiten überraschenden Erkenntnissen nachjagen zu müssen, koste es, was es wolle.

Open Science beschäftigt sich mit einer Reihe von anhaltenden und neuen Herausforderungen, wie der Standardisierung von Datenbanken, der Interoperabilität zwischen unterschiedlichen Datenerhebungs- und -verarbeitungssystemen, sowie der Übertragbarkeit über Disziplinen hinaus. Welche Daten sollen und dürfen offen zugänglich sein und wo greift der Schutz von Persönlichkeitsrechten und Datensicherheit? Wer profitiert von Big Data in der Wissenschaft und wie werden sich die technischen und methodischen Veränderungen auf die Gesellschaft auswirken? Diese Fragen müssen jeweils spezifisch von jeder Arbeitsgruppe und im Rahmen ihrer Disziplin und aktuellen Forschungsfrage individuell beantwortet werden. Die Etablierung von Standards, die möglichst breit aufgestellt sind, dabei aber auch Flexibilität in der Auslegung und Umsetzung für einzelne wissenschaftliche Fragestellungen erlauben, verbessern die Vergleichbarkeit und ermöglichen die Reproduktion und Nachnutzung wissenschaftlicher Resultate.

Open Science ist eine Bewegung, die auf den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis aufbaut und deren Tragweite sich bisher nur erahnen lässt. Wir sind am Anfang des Weges aus der Krise, alle Zeichen stehen auf “open” und lassen auf Gutes hoffen.


Zu den Autorinnen:

Foto: Ralf Rebmann, Rima-Maria Rahal, CC BY-SA 4.0

Dr. Rima-Maria Rahal studierte Psychologie in Heidelberg und Amsterdam, und promovierte zu den kognitiven Grundlagen von Entscheidungen in sozialen und moralischen Dilemmata am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Sie forscht aktuell an der Tilburg University zu physiologischen Maßen in sozialen Entscheidungskontexten. Im Fellow-Programm hat sie einen offenen Onlinekurs zu methodischen Grundlagen des wissenschaftlichen Experimentierens unter Einbindung von Open Science Praktiken entwickelt.

Foto: Ralf Rebmann, Johanna Havemann, CC BY-SA 4.0

Dr. Johanna Havemann ist Trainerin und Beraterin im Bereich Wissenschaftskommunikation und Mentorin im Fellow-Programm. Sie absolvierte ihre Promotion am Max-Planck Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen und hat Arbeitserfahrungen in gemeinnützigen Projekten, im privaten Sektor und arbeitete unter anderem für ein wissenschaftliches Startup, ein pan-afrikanisches Netzwerk für Wissenschaftler*innen und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). Seit 2014 bietet sie unter dem Label Access 2 Perspectives Kurse und Trainings in den Bereichen (offene) Wissenschaftskommunikation, wissenschaftliches Projektmanagement und Karriereentwicklung mit Fokus auf digitalen Anwendungen für die (ebenfalls möglichst offene) Wissenschaft an.

[1] Open Definition 2.1, https://opendefinition.org/od/2.1/en/, Stand 23.01.2019.

[2] Pressemitteilung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 23. Februar 2010, http://www.dfg.de/en/service/press/press_releases/2010/pressemitteilung_nr_07/, Stand 06.02.2019

[3] Cohen, J. (1962) The statistical power of abnormal–social psychological research: A review. Journal of Abnormal and Social Psychology, 65, 145-153.

[4] Marszalek, J. M., Barber, C., Kohlhart, J., & Cooper, B. H. (2011). Sample Size in Psychological Research over the Past 30 Years. Perceptual and Motor Skills, 112(2), 331–348. https://doi.org/10.2466/03.11.PMS.112.2.331-348

[5] zum Beispiel bei klinischen Studien: Dickersin, K., & Min, Y. I. (1993). NIH clinical trials and publication bias. The Online Journal of Current Clinical Trials, Doc No 50, [4967 words; 53 paragraphs].

[6] Ioannidis, J. P. A. (2005). Why most published research findings are false. PLoS Medicine, 2(8), 696–701. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.0020124

[7] Psychology is in crisis over whether it’s in crisis. https://www.wired.com/2016/03/psychology-crisis-whether-crisis/, Stand 06,02.2019.

[8] Open Science Monitor des Europäischen Wissenschaftsrats, https://ec.europa.eu/info/research-and-innovation/strategy/goals-research-and-innovation-policy/open-science/open-science-monitor_en, Stand 06.02.2019

[9] Siehe auch: https://fivethirtyeight.com/features/psychologys-replication-crisis-has-made-the-field-better/

Beitragsbild: Riesenspatz Infoillustration für Wikimedia Deutschland, Illustration Sichtbarkeit englisch, CC BY-SA 4.0

Noch keine Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert